Bewertung: 5 / 5

Stern aktivStern aktivStern aktivStern aktivStern aktiv
 

Anastas Mikojan

 

Anastas Mikojan

Ehrenbürger aus Kurt Müllers Hand

Nach elfjähriger Enthaltsamkeit der damaligen Stadtoberen in dieser Sache schickte sich zum 7. Oktober 1961 Oberbürgermeister Kurt Müller an, einen Ehrengast zum Ehrenbürger zu erklären. Es war eine der ersten großen Amtshandlungen dieser Art für den SED-Funktionär. Das Protokoll der Feierlichkeiten zum 12. Republiksgeburtstag des östlichen deutschen Nachkriegsstaates wollte es so, daß der damalige Erste Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR nach Karl-Marx-Stadt kam. Kaiserwetter vor der Ankunft am "Chemnitzer Hof". Zeitgemäß vollzog Kurt Müller tags darauf den Akt nicht in städtischen Räumlichkeiten: Vielmehr sah die große Modul-Werkhalle in Altchemnitz auf Pfauters Areal das später zeitweilige sowjetische Staatsoberhaupt vor zur Feierlichkeit ruhenden Maschinen. Hier vor den Modularbeitern erhielt Mikojan mit der Mappe die Würde, auf den Fotos sind Kulturministerin Furzewa zu erkennen, der Botschafter Perwuchin und andere rundum. Spaziergänge im Stadtpark und natürlich ein Besuch in einem Werkzeugmaschineninstitut, man war bei Prof. Gläser in der Annaberger Straße zu Gast, (der heutige Nachwendeinvestor hat soeben den Fachleuten den Orkus vermitteln wollen) gehörten auch zum Programm.
Leicht gesagt, die Ehren wären von ungefähr zugefallen. Es gab durchaus Lokalbezüge. Mikojan, der 1895 geborene, den die Revolutionsgeschichte als glücklich entkommenen Baku-Kommissar nennt, war auch nach dem Kriege Stalins Spitzenmanager etwa für Versorgungsfragen. Als Chemnitz kurz nach der Kapitulation Hitlerdeutschlands knapp am Verhungern war, arrangierte Anton Ackermann (das ist der Hanisch-Eugen aus Thalheim exakt) Hilfe aus Moskau. Mikojan hat dabei den Namen Chemnitz zum möglicherweise ersten und letzten Male gehört, sofern er nicht Fritz Heckert (MdR) näher gekannt hat und sich für dessen Heimat interessierte. Die Lieferung der Nahrungsmittel erfolgte jedenfalls auf Weisung Stalins, Mikojan war der Spezialist.
Mikojans Biografie kennt nicht nur die Höhen uneingeschränkter Privilegien. Mitte der 60er Jahre stieg er zwar kurze Zeit zum Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjet auf. Das war das höchste staatliche Amt, das nur noch die Generalsekretäre der Allunionskommunisten und Rotchinas überragten. Doch das änderte sich schon mit der nächsten Führungskrise. Nachdem infolgedessen über etliche DDR-Jahre sein Name in den Spalten der Parteipresse nicht mehr vorkam, war es dann nahezu sensationell, als der Mos-kauer "Sputnik"-Digest zu Ende des Jahrgangs 1971 eine mehrteilige, subjektive Vita druckte. Lange war es nicht denkbar, an Mikojan in Karl-Marx-Stadt zu erinnern, was mancher gern getan hätte.
Unmittelbar nach der Karl-Marx-Städter Ehrenbürgerschaft war Anastas von Nikita Chruschtschow nach Kuba zu Fidel Castro entsandt worden. Es war zu Zeiten der Aktion Schweinebucht, der Moskau nur mit Raketen gen Miami Herr werden konnte. Bald darauf, wie gesagt, wurde es sehr still um Mikojan. Offenbar erinnerten sich die Spitzenfunktionäre später ungern daran und umgingen den Namen des Ehrenbürgers, wo immer es nur ging. Auch an der Kremlmauer, wo die wichtigsten Größen der Sowjetmacht, aber auch Heckert und die Zetkin, postum versammelt sind, war für Mikojan nach seinem Tode am 21. Oktober 1978 kein Platz. Die "Stadtstreicher"-Anfrage beim Stadtarchiv, ob das Rathaus kondolierte, als der Ehrenbürger verstorben war, brachte keinen Beleg. Wer in Ungnade gefallen war, durchlebte gleichsam Tilgung bis in den Tod. Die Sippenhaft ließ gerade noch zu, daß die populären Mig-Militärflugzeuge ihren Namen behielten. Diese hatte Anastas jüngerer Bruder Artjom konstruiert, aber das wußten sicher die wenigsten.
Es dauerte übrigens abermals zehn Jahre, bis OB Kurt Müller erneut eine Ehrenbürgerwürde zu vergeben hatte. Sie fiel dem sowjetischen Wismut-Generaldirektor Woloschtschuk zu und ist heute ebenso folgenlos in Kraft wie alle weiteren bis zum Konkurs der DDR-Staatsmacht erteilten. Aber das ist ein anderes Kapitel.

 

Quelle: Stadtstreicher Chemnitz, Addi Jacobi