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Ruth Leder

 

Ruth Leder

Die aus Hermlins Gedächtnis gestrichene Schwester

"Wir hatten blaue Mützen", erinnert sich Ruth Frenkel lebhaft. Zuerst habe sie die Schule in der Heinrich-Beck-Straße besucht, dann das Gymnasium. "Pappeln sind mir gut im Gedächtnis." Der Hessische Rundfunk half uns rasch, die Kaßbergtochter telefonisch in Israel zu erreichen. Gern nennt sie uns ihren Geburtstag: "16. Dezember 1918." Also war ihr Bruder Rudolf schon dreieinhalb, als sie sich in der kunstsinnigen jüdischen Chemnitzer Textilhändlerfamilie Leder bemerkbar machte. "Meine Mutter war eine sehr bewußte Jüdin. Nicht, daß sie eine besonders fromme oder gute Jüdin war. Aber sie war eine stolze Jüdin, sie hat es nie verneint und nie abgeleugnet, im Gegenteil." Dem Chemnitzer Kaufmann David Leder scheint der Fronteinsatz 1914 erspart geblieben zu sein: "Mein Vater und kämpfen - das sind zwei absolute Gegensätze. Mein Vater war ein friedliebender Mann. Mein Vater und kämpfen! Er war kein Kämpfer, in keiner Form! In keiner Form!" Freilich hatte er schon in den zwanziger Jahren in Chemnitz einen zionistischen Club gegründet, sammelte für Landkäufe in Palästina.
Erst im Todesjahr Rudolfs, der sich als Stephan Hermlin einen weithin geachteten Namen erwarb (Stadtstreicher 4/95), erfuhren die hier Interessierten von Ruth Frenkels Existenz - der oft unnahbar erscheinende spätbürgerliche Wortwäger nahm alle Gründe, die dafür gegolten haben mochten, mit ins Grab. Seit Jahrzehnten mied er offenbar alle Kontakte zu Ruth. Karl Corino spürte sie nun auf, gewann neuen Einblick in die familiäre Situation einer unbeschadet hochachtbaren Chemnitzer Familie ("Außen Marmor, innen Gips - Die Legenden des Stephan Hermlin" Econ-Verlag 1996). In all ihrem Dilemma, ihrer Misere im Jahrhundert der Diktaturen, sind alle ihre Einzelschicksale nun zum Gedenken bestimmt. Weiter Nachfrage bei Stephan Hermlin nach den Gesprächen mit Schwester Ruth versagte der Tod; so gilt fortan Ruth Frenkels Wort als das unantastbar letzte.
Auch Bruder Alfred Leder, dem Hermlin mit der "Ballade vom Gefährten Ikarus" einen literarischen Nekrolog widmete, interessierte für unsere Recherchen über namhafte Chemnitzer Kriegsopfer allezeit, war doch dank "Abendlicht" recht glaubhaft, er sei in der Royal Air Force als Jagdflieger gegen den Feind namens Hitlerdeutschland in den Lüften gewesen und ums Leben gekommen im Kampfeinsatz. Auskünfte dazu in Telefonaten und Korrespondenzen mit Hermlin blieben aus. Jetzt stellt Ruth Frenkel richtig, was in der überhöhten Version übergangen worden war: Bruder Alfred, 1917 in Chemnitz geboren, absolvierte in Kanada eine Pilotenausbildung und erlitt den Fliegertod nach einem Zusammenstoß im Nebel, wobei sich der andere in die Kollision verwickelte Pilot per Fallschirm retten konnte. Punktum. Ebenso steht Ruth Frenkel mit ihrer Person für die Auskunft zur definitiven Ankunft ihres Bruders Rudolf (also Hermlin) und dessen Frau Juliett. Ruth holte beide vom Hafenkai ab, als sie sich 1936 nach Jaffa retteten.
Was schließlich Karl Corino als Anmerkung 130 zusammenfaßt, geht leider über das Maß dieser Zeilen hinaus, so daß die Lektüre empfohlen sei, läßt es doch stärker durchschauen, warum dem Menschen Hermlin-Leder die Erinnerung an solche Begebenheiten unwillkommen und die an seine Schwester Ruth mit all ihrer Detailkenntnis beunruhigend war. 1957 brach er allen Kontakt zu Ruth Frenkel ab. Verschleiern, heroisieren, irreführen als Strategieelemente eines sich unantastbar dünkenden ästhetischen Instrumentariums? Welche Diskrepanz zum postulierten Anspruch und zur erwirkten Wertschätzung der Sprachkultur.
Ruth Leders Biographie wird durch alle Erinnerungen, die Karl Corino festhielt, für Chemnitzer Verhältnisse speziell interessant. Großvater Leon arbeitete sich in Chemnitz vom aus Rumänien eingewanderten Hausierer zum Kaufmann und Hausbesitzer (Heinrich-Beck-Straße 53) hoch. Man kann rasch Corinos Vermutung teilen, daß der Dichter Hermlin wohl deshalb Ruths Existenz im Amtspapier und in seinen Texten unerwähnt ließ, um "einen wichtigen Augenzeugen seiner Jugend aus dem Blick (zu) rücken" und weil Hermlin auch "keinerlei Verbindungen nach Israel haben wollte." Daß er die anhaltende Wohlhabenheit seiner Eltern schönt, mag am ehesten verzeihlich sein. Amtliche Adreßeinträge nennen den einst gutsituierten Kunstsammler und Firmeninhaber, der aus welchen Gründen auch immer literarisch "ins Phantastische gesteigert" erscheint, "Kaufmännischer Angestellter, seit 1935 "Vertreter" oder "Textilvertreter" - das unabwendbare Auf-und-ab-Risiko zwischen den Krisen dieser Jahre. "Meine Mutter hatte einen sozialen Fimmel", erzählt Ruth Frenkel über die Jahre bis 1930: "Da mußte ich immer mit dem Mädchen essen, damit das Mädchen nicht alleine ißt, denn mein Vater wollte das Mädchen nicht mit am Tisch haben. Und außerdem, wie gesagt, der Platz an dem Tisch war zu klein für alle. Und somit aß ich in der Küche. Was mich persönlich nicht furchtbar gestört hat, nur hinterher ist mir aufgefallen, daß das eigentlich sehr unrecht war. Die Sekretärin hat auch bei uns mitgegessen, nachdem die schon da war, und das war ein Teil ihres Gehaltes sogar." An die Berliner Jugendjahre mit ihren älteren Brüdern hat Ruth Frenkel teils entschieden andere Erinnerungen, als sie Hermlin literarisiert. Sie nennt Corino den Grund, ihn per Consilium abeundi von der Schule zu relegieren, was nur bewirkt, daß sich der von Corino befragte Hermlin ein weiteres Mal in Schweigen hüllte.
Noch liegt uns ein Bildnis Ruth Frenkels nicht vor. Ob sie ihrer Mutter, die einst Max Liebermann malte, 1921, ähnelt? Wir setzen das Porträt der Mutter Lola Leder, geb. Bernstein, geboren 1892 im damals österreichischen Galizien, aus Liebermanns Gemälde stellvertretend und behutsam an diesen Platz. "Es ist nichts so fein gesponnen..."
Addi Jacobi

 

Quelle: Stadtstreicher Chemnitz, Addi Jacobi