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otto


Frei Otto, Architekt

* 31. Mai 1925 in Siegmar    † 9. März 2015 in Warmbronn

 

Von der Natur gefangen

In den 1980er Jahren hatte Frei Otto ein Lieblingsspiel. Dem Besucher des Instituts für Leichte Flächentragwerke in Stuttgart-Vaihingen zeigte er die Luftaufnahme des Universitätscampus mit der Aufforderung: "Nun zeigen Sie mir mal mein Institut!" Der Blick des Fremden wanderte durch das Grüne über mehrere Institutsgebäude hinweg und stieß plötzlich auf das grau eingedeckte Zeltdach, hoch aufragend, aber kaum sichtbar. Das ist das Institutsgebäude im Pfaffenwaldring 14 und das 1:1-Modell zum deutschen Ausstellungspavillon der EXPO '67 in Montreal.
Lange Suche und Überraschung des Gastes waren das größte Lob für Frei Otto: Sein Bau ist ein "Teil der Natur, ein Teil des Ganzen!"

 

"Architektur ist die Mutter der Ruinen"

Am Anfang war der Name "Frei", von seinen Eltern erfunden. Der Geist der Freiheit herrschte in der jungen Weimarer Republik. Der erstaunte Standesbeamte meinte, dass so ein Name dem Kind in der Zukunft nicht schaden könne.Als Kind wollte Frei Otto Erfinder werden. Er erfand permanent und alles mögliche: von einer Nähmaschine bis zu Flugzeugmodellen. Nach seinem Abitur 1943 geriet der Sohn eines Bildhauers in den Krieg. Die Fasanenfeder- und Segelflugzeuge mussten zurückbleiben. Otto wurde Ende 1944 zum Jagdflugzeugpiloten ausgebildet. Das Kriegsende brachte zuerst amerikanische und später französische Gefangenschaft für ihn: Hunger, Ungewissheit und Arbeit als Lagerarchitekt in Würzburg, Mutterstadt und Chartres. Seine ersten ausgeführten Entwürfe waren Kasernen und Friedhöfe. Gleich nach der Entlassung entwarf er einen Kinderspielplatz und nahm am Berliner Wettbewerb "Rund um den Zoo" teil.

 

Verborgene Welt der kühnen Ideen

Die Architektur wurde zur Berufung für Frei Otto, die Architektur, die human und natürlich ist, die aber, wie die Natur, sehr leicht zerstört werden kann. "Brennende Städte wurden zu einem harten Einführungskurs für junge Architekten."

 

"Weniger ist mehr" - architektonische Ästhetik

1948 begann Frei Otto sein Architekturstudium an der Technischen Universität Berlin während der Berliner Blockade. Nebenbei besuchte er auch Kurse über moderne Kunstgeschichte, modernes Bauen sowie Vorlesungen des Studium Generale in Biologie, Musik und Geschichte. 1950 unternahm er als einer der ersten deutschen Studenten in der Nachkriegszeit eine Reise durch die USA als Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes, wo er die Architekten Mies van der Rohe, Frank Lloyd Wright, Eero Saarinen und Richard Neutra kennen lernte. Die großen Architekturbüros der USA experimentierten damals mit streng ökonomisch geplanten Bauflächen und Formgestaltung. Man befasste sich mit folgenden Baugrundtypen: dem Hochhaus in der Stadtmitte, weitläufigen Unternehmensgeländen mit Büros und Wohnbereichen auf dem Lande und mit Baukörpern mit expressiven und symbolischen Zügen.
Beflügelt von den Ideen des organischen und materialaufwendigen Bauens kehrte Frei Otto ins kriegszerstörte Europa zurück und promovierte im Herbst 1953 mit der Dissertation "Das hängende Dach", das eine "natürliche" Lösung der architektonischen Probleme wirtschaftlicher und technischer Natur darstellte. Aus Seilnetz- und Membrankonstruktionen entstand eine feine Mischung aus Innenraum und Natur. Von nun an entwarf der junge freie Architekt in Berlin eine Atelierschrift, Konstruktionen und Bauten verschiedener Pavillons in Deutschland und die Entwicklungsstätte für den Leichtbau in Berlin im Jahr 1957.

 

Man lernt, solange man lehrt

Frei Otto hat eine besondere Haltung zur Lehre der Architektur: Man kann sie nur schwer lehren, vielleicht nur ihre Grundlagen. Das Entwerfen aber kann gar nicht gelehrt werden, statt dessen wird der empirische Weg gewählt. "Ich entwerfe nicht, ich suche", sagt Frei Otto. Der Lehrer selbst ist kein Richter, sondern er verbreitet eigenes Wissen, zeigt die Wege zu Neuem und lernt gemeinsam mit den Schülern auf noch unbekannten Gebieten. In diesem Sinne lehrte Frei Otto als Gastprofessor an vielerlei Stationen: 1958 an der Washington University St. Louis, 1959/1960 in Ulm an der Hochschule für Gestaltung, 1960 an der Yale University, 1962 an der University of California in Berkeley, am M.I.T. und an der Harvard University, ab 1964 in Stuttgart als Honorarprofessor und ab 1976 als Ordentlicher Professor.

 

Institut mit Leichtigkeit geleitet

1964 wurde der promovierte Diplomingenieur Frei Otto an die damalige Technische Hochschule Stuttgart gerufen: Eigens für ihn wurde das Institut für Leichte Flächentragwerke gegründet, eine Forschungseinrichtung, die wegen ihrer interdisziplinären Arbeitsmethoden schon nach wenigen Jahren weltbekannt war. Professor Frei Otto leitete sein Institut und lehrte in Stuttgart 26 Jahre lang, bis zu seiner Emeritierung. Danach blieb das Institut einige Jahre "kopflos" oder "dachlos". Man sprach sogar von seinem Zerbrechen. Doch heutzutage heißt es Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren und wird von Professor Werner Sobek geleitet.

 

Babylon im "Tal der Architektur"

Die studentische Bewegung 1968 erfasste die junge Generation in den USA und Europa. Der Protest richtete sich gegen alle herrschenden Autoritäten in Gesellschaft und Staat sowie gegen diktatorische Staatsformen in der Welt. Frei Otto erinnerte sich an diese Umbruchzeit für die Technische Hochschule Stuttgart und für die Abteilung Architektur: Es brannten Schulen und Lehrstühle in Californien, England, Japan und Paris. In Stuttgart nicht. Stuttgart war ja nicht konservativ. Hier wurde ideologisch relativ progressiv gedacht und milde gestritten. Organisatorisch wurde aber kräftig reformiert. Später wurde bald restauriert.
Die Revolution war ein Sturm, der viel brachte und zugleich knickte. Die berühmte eine Baufakultät brach auseinander. Mit acht Fachbereichen wollte man mehr Macht. Man verlor sie. Architektur, Städtebauer, Geodäten, Konstrukteure, Ingenieure, Wasserbauer, Verkehrsplaner strebten auseinander, sprachen andere Sprachen, jeder hatte bald nur noch ein Stimmchen. Die Gemeinsamkeit in der Lehre war fort. Wenigstens in dem Haus, das sich nun Universität nannte."

 

Symbiose in der Architektur

1961 gründeten Frei Otto und Johann Gerhard Helmcke, Ordinarius für Biologie und Anthropologie an der TU Berlin und Leiter des Instituts für Kariesforschung und Mikrobiologie am Max-Planck-Institut, die Forschungsgruppe Biologie und Bauen. Ab 1964 wurde die Arbeit der Gruppe in Stuttgart weitergeführt. Biologen, Architekten und Ingenieure arbeiteten zusammen, um einen Grundkonflikt zwischen Natur und Technik zu verstehen und zu überwinden: Der Mensch zerstört die Natur durch die Bauten, die er errichtet, um sich von der Gewalt der Natur zu schützen. "Natürlich bauen", so dass die Bauten zusammen mit der Natur ein harmonisches Biotop bilden, war die entscheidende Problemlösung von Leichtbautechnikern.
"Die Biologie ist eine Naturwissenschaft. Sie beobachtet die Natur und analysiert sie. Entwicklungsprognosen und Planungen sind der Biologie fremd. Die Architektur ist Synthese, ist Planung, ist vermutete Zukunft. ... Der Architekt braucht den Biologen, der mit jenen Methoden die heutige Situation erforscht und unmittelbare reale Hilfe geben kann. Es geht um den Menschen und seine bestmögliche Umwelt. Die Grundaufgabe jeden Bauens ist primär stets human-biologisch und erst sekundär technisch."
1970 wurde der Sonderforschungsbereich 64 der Deutschen Forschungsgemeinschaft "Materialforschung und Forschung im konstruktiven Ingenieurbau" gegründet, der im Jahre 1973 in "Weitgespannte Flächentragwerke" umbenannt wurde. Mehr als 50 Mitarbeiter aus Mathematik, Bauwesen, Architektur, Geodäsie, Luft- und Raumfahrt und Psychologie wurden in diesem Projekt unter der Leitung von Frei Otto beschäftigt. Im Mittelpunkt der Forschung standen "alle jene Strukturen, die mit geringstem Materialaufwand Räume umschließen oder Flächen überspannen". Dazu gehörten leichte Wölbkonstruktionen, Gitterschalen, Netze, Zelte und sich selbst tragende Membrankonstruktionen, die in Luft-, Raum-, und Seefahrt, Maschinenbau, Energietechnik und Fernmeldetechnik verwendet werden könnten. "Die weitspannbaren flächenbildenden Tragwerke sind ein Spitzengebiet des Bauwesens. Es geht dabei um Ausweitung der Grenzen, und zwar weniger der effektiven Spannweiten, als um die Vergrößerung der Effektivität im materiellen, ökonomischen Bereich."

Wie die Natur hat auch die Forschung eigene Entwicklungsphasen. Seit 1985 existierte der Sonderforschungsbereich 230 mit dem Thema "Natürliche Konstruktionen" am Institut für Leichte Flächentragwerke, dabei interpretierte Frei Otto mit seinen Kollegen die Natur anhand von Untersuchungen ihrer Konstruktionen. "Die Formen materieller Objekte entstehen durch gestaltbildende Prozesse. Gestalten entstehen in allen Bereichen der Natur: in der unbelebten Natur, in der lebenden Natur, in den Techniken der Tiere und des Menschen, in der Kunst. Alle materiellen Objekte der Natur und der Technik haben eine Form und sind zusammengefügt, sind somit Konstruktionen. Die Objekte der Natur sind natürliche Konstruktionen. Sie entstehen auf Grund von Selbstbildungsprozessen. Der Mensch kann sowohl natürliche Prozesse anregen als auch Künstliches tun."

 

"Spielend" leichte Konstruktionen

Der deutsche Pavillon zur Weltausstellung 1967 in Montreal und das Kongresszentrum in Mekka 1974, die Olympiadächer in München 1972, Multihalle in Mannheim 1975 und Ökohaus in Berlin 1990. Diese und viele andere Projekte und Bauten sind eng mit dem Namen Frei Otto und seiner theoretischen und experimentellen Forschung am Institut für Leichte Flächentragwerke verbunden.

 

Natürlich ist der Leichtbau

Die Architektur sucht nach ihrer Identität mit der Zeit. Das Alltagsleben wird immer dynamischer, rationeller und flinker. Alles erlebt Veränderungen: von der Kleidung der Menschen, die kürzer, enger und offener wird bis zu der "Bekleidung" von Städten, die durch schlichte, abstrakte und minimale Formen und Konstruktionen charakterisiert werden. "Der Mensch formt seine Häuser, dann formen die Häuser den Menschen." Aber durch massenhafte, eintönige Bauten wird nicht nur die Natur selbst, sondern auch die unwiederholbare Individualität des Menschen zerstört. Um das Wesen des Menschen und seine Umwelt zu retten, träumte und suchte Frei Otto nach möglichst anpassungsfähigen, wandelbaren Formen in den natürlichen Landschaften.
Die Neuentdeckung der Leichtigkeit in der Architektur ist die Reaktion der Moderne auf die neuen ästhetischen und ökonomischen Faktoren des Lebens. Die leichten Konstruktionen kommen den Herausforderungen der Zeit im Bereich des Bauens entgegen: mit wenig Material und Arbeitsaufwand werden hochfeste, leichte und schnellerstellte Bauten mit vielen Verwendungsmöglichkeiten entwickelt. Das Prinzip Leichtbau lautet: "Je weniger Masse eine Konstruktion benötigt, um die Kräfte zu übertragen, desto besser ist ihre Form." Nach diesem "sparsamen" Prinzip funktionieren mehrere Konstruktionen der lebenden und unlebenden Natur. Um die Qualität von Konstruktionen zu bewerten, wurde eine neue, physikalische Größe eingeführt: Bic.
Die optimalen, in diesem Fall niedrigsten Bicwerte haben Atome, Haare, Spinnfäden, Häute, Pflanzenfasern und schließlich Knochen. Die Natur besitzt viele schon gegebene, fantasievolle Formen, die die ausgedachte Welt der Menschen nicht hat. Dafür ist der Mensch fähig, Konstruktionen zu erfinden, welche keine Entsprechungen in der Natur haben. Durch das Prinzip Leichtbau bekommt der Erfinder mehr "Freiheit, Überschuss, Spiel" in seinem Schaffen und "nähert sich mit der Hilfe der modernen Technik wieder dem Urtümlichsten und Einfachsten", das als unwidersprüchliches Ideal der Menschheit immer existierte.

 

Freie Experimente

Am Institut für Leichte Flächentragwerke wurde immer fantasiert und experimentiert. Frei Otto stellte mit seinem Team philosophische und technische Fragen: Wie werden die Menschen weiterleben? Was ist gute Architektur? Wie entsteht eine Konstruktion? Welche Prozesse beeinflussen den Entstehungsvorgang aller Objekte? Wie baut die Natur? Welche gegenseitigen Verhältnisse entstehen zwischen Natur und Bauten?

Spielend, aber technisch exakt wurden die Experimente durchgeführt, um die Entstehungsprozesse von materiellen Objekten aus der lebenden und unlebenden Natur zu simulieren und sie wissenschaftlich zu betrachten. Die Natur war dabei kein Vorbild, sondern nur ein Erkenntnismittel der natürlichen Strukturen. Es wurde nach Konstruktionen gesucht, die menschennah, ästhetisch und naturschonend sind.
Bei den zahlreichen Experimenten wurden Werkstoffe benutzt, die alle noch aus ihrer Kindheit kennen: Seifenblasen, Sand und Steine; Fäden, Gewebe und Ketten; Gips und Gummifolien. Vielfältige Modelle und Versuchseinrichtungen wurden damit am Institut für Leichte Flächentragwerke entwickelt und gebaut: Seifenhautmaschine, Minimalweggerät, Kipp- und Drehtellergerät, Gips-, Ketten- und Kunststoffmodelle.Durch diese Experimente und ihre systematische Analyse wurden die Formbildungsprozesse von unterschiedlichen Minimalflächen und Leichtkonstruktionen verschiedener Art erforscht und in die Praxis umgesetzt: zugbeanspruchte Membranen- und Seil-Netzkonstruktionen, pneumatische Konstruktionen und wandelbare Konstruktionen, Verzweigungskonstruktionen und Hängekonstruktionen, Bogen, Gewölbe und Schalen.

Auf diese Weise stellt der Architekt und Visionär Frei Otto die allgemein menschlichen Fragen weiter und gibt die Antworten aus seiner Sicht:
"Wie müssen wir weiter leben? - Man muss mehr denken, mehr forschen, entwickeln, erfinden und wagen, um allen Menschen ein friedliches Leben in der von ihnen selbst behüteten Natur zu ermöglichen."

 

Quelle: Kateryna Serebryakova in www.uni-stuttgart.de