Kurt Müller
25 Jahre OB in Karl-Marx-Stadt Hoffnung immer und Enttäuschung öfter
Alle Chemnitzer Haushaltungen erhielten soeben das hilfreiche Bürgerbuch des City-Verlages, der den guten Adressbuchbrauch des Pickenhahn-
verlages aufgegriffen hat. Da wird man beim Blättern auch oft an die Tätigkeit eines Mannes erinnert, der ein vollständiges Vierteljahrhundert im Rathaus Oberbürgermeister war. Acht der noch heute intakten internationalen Städtepartnerschaf-ten, die auf Seite 16 verzeichnet sind, kamen mit seiner Energie in seiner Amtszeit zustande. Tampere zuerst, Manchester zuletzt, für Tombouc-tou schnupperte er 1967 afrikanische Mali-Sitten. Dann folgt im Adressbuch die aktuell amtliche Liste der "Ehrenbürger der Stadt Chemnitz". Mit Amtskette und allen Insignien damaliger Macht vollzog Kurt Müller neunmal diese Würdigungen, die bis heute unantastbar geblieben sind. Freilich hat nicht nur in seiner Zeit aller Frust auch eine stadtobere Adresse; als Oberbürgermeister steht jedesmal der Amtsinhaber ein für alles Wohl und Wehe einer Kommune. Die 25jährige Amtszeit Kurt Müllers, der seit seinem Abgang anno 1986 eher unauffällig seinen Seniorenplatz ausfüllt, hatte ihre früheste Vorphase beim Bau der Talsperre Sosa und danach eine als 26jähriger Bürgermei-ster solcher Orte wie Stützengrün (ab 1950) oder Aue. Als hierzulande kaum mehr als die internen Fachleute Begriffe wie Datenbank oder Vernetzung erklären konnten, wußte Kurt Müller die Sachver-halte schon haarklein auseinanderzuposamentieren, vermochte er, Visionen lebendig werden zu lassen, kannte Bankgebaren im Kapitalgeschäft und wußte meist auch davon, wie man solcherart Novitäten für die Kommunalpolitik ausnutzen konnte. Besser: Könnte! Denn zwischen Theorie und Praxis lagen wie allezeit Welten. Kompetent in den politischen Gelehrsamkeiten der Zeit und allemal ein Hoffnungsträger in der östlichen Kader-schmiede, hatte er wohl nicht übel Lust und das Zeug dazu, seinem Namen einen Doktortitel voranzustellen. Das wurde ihm ebenso versagt, wie es Amtsvorgänger Kurt Berthel in den Parteisekreta-riaten angekreidet und verübelt wurde, als neues Dienstfahrzeug einen hellfarbenen (beige/ocker/ zweifarbig) "Sachsenring" disponiert zu haben, wo es sich allenfalls gehörte, dunkle Limousinen zu benutzen.
Als Kurt Müller antrat im OB-Zimmer, vier Jahre vor der pfiffigen 800-Jahr-Feier, stand im Stadtzentrum noch nicht einmal die Hauptpost, kein "Industriezentrum", kein Rat des Bezirkes und allenfalls Walter Howards Marx-Engels-Denkmal, das man in Berlin nicht aufstellen wollte. Für die "Grüne Welle" des noch nicht vorhandenen Verkehrsampelnetzes steckte die Steuerzentrale neben dem Roten Turm noch vor der Projektierung. Zwischen Stadtbad, Rathaus und Druckhaus kein Neubau der Innenstadt! Keine Stadthalle, kein Springbrunnen dort, keine Plastik. Für den Abbruch des Karrees Gartenstraße/Zimmerstraße rief OB Müller eine "Verlagerungskommission" ins Leben.
Die Querelen zwischen Bauakademie und Parteibeschlüssen dürften spannende Kapitel seiner Memoiren ausmachen, aller Kleinkrieg um Bilanzierung "finanzielller und materieller Kennziffern" im Plangeschehen zwischen Bezirk und Stadt, aller Zoff mit übergeordneten Etagen der Partei- und Staatshierarchie zu jeder neuen Straße, Bahntrasse und zu jedem Schlagloch im Honecker-Wahlkreis. Allein die Details zur verhinderten "aufgeständerten Bauweise", zum Block 78 und zum Thema Lückenbebauung sind mehr als nur Anekdoten. Man sagt, ohne OB Kurt Müller wäre im Sinne des Wohnungsbauprogramms das Stadtzentrum noch viel dichter auf teuerstem Baugrund mit Betongroßplatten vollgestellt worden. Zu Kurt Müllers Zeiten entstanden vom ersten Planungsimpuls bis zur später minimierten Taktstraßenversion und bis zu allen anderen Unvollkommenheiten die Satellitenstadt namens Heckert, "Yorck" zuvor nach "Flemming" und "Beimler". Hoffnung immer und Enttäuschung öfter. Also bleiben Fragen. Auch diese: Ob es je ein Chemnitzer Oberbürgermeister wieder auf 25 Amtsjahre bringt? Das ist jetzt unter freiheitlich-rechtsstaatlichen Bedingungen nicht vorhersehbar. Für Kurt Müller ist dieses Vierteljahrhundert die wesentliche Lebensleistung, als Amtsvorgänger Dr. Eberhard Langers die Stadt als Oberhaupt nach Kräften redlich verwaltet und repräsentiert zu haben im Irrgarten von Recht und Unrecht, Kür und Willkür, Eigeninitiative und Disziplinierung. Allerhand aus seiner Amtszeit - das Bürgerbuch 1997 bekundet es - hat noch heute Würde und Bestand.
Wenn andernorts ein politischer Gegner unterliegt, bleibt ihm das Recht, als "Alt-OB" oder "OB a. D." im Stadtgedächtnis zu bleiben. Das sollte auch Kurt Müller vergönnt sein. Mit einer Nachfrage bei der Guinessbuch-Redaktion, ob es wohl irgendwo einen Oberbürgermeister einer ähnlichen Stadt wie der unseren mit höherer Zahl von Amtsjahren gab, ist es nicht getan.
Quelle: Stadtstreicher Chemnitz, Addi Jacobi