Prof. Dr. Wolfgang Weichelt
Staatsrechtler, 1929 bis 1993
Achtzehn? Dann waren Sie also gerade mal in der zweiten Klasse, als dem Arbeiter- und Bauernstaat DDR die Luft ausging. Jedenfalls werden Sie kaum von Leuten wie Prof. Wolfgang Weichelt wissen. Selbst als führender Staatsrechtler im Professorenrang hatte er ohnehin eine eher unauffällige Position, verfasste die fundamentalen Gesetze des Landes zwischen Völkerrecht und Parteiwillen, verfocht die Verfassungsänderungen nach den aktuellen Erfordernissen und gelangte also auch nach weitreichender ,Anerkennungswelle‘ der DDR in respektable internationale Gremien: Mitglied der Akademie für Vergleichendes Recht Paris seit 1979, stellvertretender Vorsitzender in der Interparlamentarischen Union seit 1977 und manches andere. Dieser Mann war ein gebürtiger Chemnitzer, ein Arbeiterkind, vielleicht vom Sonnenberg oder vom Brühl. Memoiren hat er zwar nicht mehr geschrieben, doch zuvor nicht wenige Broschüren und Schriften, Vorlesungen und theoretische Beiräge, von denen nicht ungeprüft jedes Stück in den Reißwolf darf - vor allem eben die "Verfassung", der Gegenentwurf zum Grundgesetz, die jedem Jugendweihling oder dem Ehewilligen in die Hände gelegt wurde. Mit allen Folgen.
Wie manch anderer befolgte Weichelt das Becherwort: "Seid Euch bewusst der Macht. Die Macht ist Euch gegeben, dass ihr sie nie, nie mehr aus Euren Händen gebt." War in der ersten Verfassung der DDR noch festgelegt, dass die Staatsgewalt vom Volke ausgehen soll und die Abgeordneten der Volkskammer ausschließlich ihrem Gewissen verantwortlich seien, so wurde 1968 unter Ulbricht die politische Realität auch durch eine Verfassungsänderung legitimiert. Parteien und Massenorganisationen werden entsprechend den Bestimmungen der sozialistischen Verfassung in der Nationalen Front gebündelt. Abgeordneten kann das Mandat bei Pflichtverletzung entzogen werden, die politische Macht wird von "den Werktätigen" ausgeübt. Auch die Ära Gorbatschow bringt zunächst in der DDR keine Freiheiten. Regimegegner und Bürgerrechtler werden verfolgt und unterdrückt, eine organisierte Opposition kann sich nicht bilden. Weichelt war 23 Jahre alt, als die Auflösung der Länder verfügt wurde, also 1952. Im Herrschaftssystem der DDR waren föderale Elemente nicht enthalten. Länder wurden in Bezirke aufgeteilt, Korrekturen waren weder nach dem Juni 1953 noch nach 1961 durchsetzbar, denn der Arbeiter- und Bauernstaat konnte kein Interesse daran haben, eine freiheitlich-demokratische Auseinandersetzung nach innen und außen zuzulassen.
Bemerkenswert, dass der Weichelt, Wolfgang schon 1946 im Chemnitzer Rathaus seine Verwaltungsausbildung begann (Johannes Arnold erinnerte sich gern und lebhaft), dann 1950 zum Studium delegiert wurde und von der Deutschen Akademie für Staat und Recht als Diplom-Staatswissenschaftler ausgebildet nach Moskau ging. 1968 war er "maßgeblich beteiligt an der Ausarbeitung der neuen Verfassung der DDR". Der Chemnitzer stieg zum Institutsdirektor und Mitglied der Akademie der Wissenschaften auf. Ihm blieb es vorbehalten, nicht nur allen weiteren staatsrechtlichen DDR-Schritten theoretisches Wort beizugeben, seit 1967 zum Volkskammerabgeordneten aufzusteigen und als Vorsitzender des Verfassungs- und Rechtsausschusses zu fungieren. Er war auch bis zum buchstäblich letzten Akt des Staates DDR federführend tätig. Das las sich dann so:
"7. XI. 1989 - dpa Den von der Regierung vorgelegten Entwurf des Reisegesetzes lehnte am Vormittag der Rechtsausschuss der Volkskammer als unzureichend ab. Er fordert zugleich die unverzügliche Einberufung des Parlaments zur Beratung über die Lage im Land." Vorsitzender des Rechtsausschusses ist auch in dieser Sitzung Wolfgang Weichelt. Somit hatte er von seiner ersten Stellungnahme gegen den Separatstaat bis zum letzten hohen Akt des SBZ-Staates namens DDR an staatsrechtlich fundamentaler Stelle den Stift geführt.
Ein Begräbnis im Friedrichsfelder Ehrenhain der Sozialisten wäre Prof. Dr. Wolfgang Weichelt ziemlich sicher gewesen, vielleicht auch ein längeres Leben. Doch finden dort seit zehn Jahren keine Beisetzungen mehr statt. Achtzehn? Wolfgang Weichelt war zwanzig, als die beiden deutschen Nachkriegsstaaten ins Rennen gingen.
Quelle: Stadtstreicher Chemnitz, Addi Jacobi